Deutsch- ukrainischer Kultur und Bildungsverein

Interview mit der ukrainische Schriftstellerin Olena Skulovatova

Olena Skulovatova ist eine Psychologin,  Dozentin und Schriftstellerin. Nach Beginn der russischen Vollinvasion lebte Olena gemeinsam mit ihren drei Kindern im deutschen Halle (Saale) im Exil; inzwischen ist sie mit ihrer Familie in die Ukraine zurückgekehrt. Während ihres Aufenthalts in Deutschland engagierte sie sich aktiv in der Bildungs- und Kulturarbeit: Sie las aus ihren Büchern, trat bei Veranstaltungen der ukrainischen Diaspora auf und führte Gespräche mit Leser:innen. Im Juli 2025 besuchte Olena Deutschland erneut für einen kurzen Aufenthalt – wir nutzten die Gelegenheit für dieses Gespräch. Übrigens hat unser Buchclub ihren Roman Imago des Menschen ausgewählt.


Oseredok Leipzig: Olena, erzähl bitte von deinem schriftstellerischen Weg. War es ein alter Traum oder eine Entscheidung im Erwachsenenalter? Wie begann alles?

Olena Skulovatova: Es war ein Kindheitstraum. Ich las schon früh unglaublich viel – manchmal zwei bis drei kleine Bücher an einem Schultag. Meine Lehrerin erlaubte mir, eigene Bücher mitzubringen, so dass ich erst die Schul- und später die Stadtbibliothek „überforderte“. Damals gab es keine Gadgets, keine Konkurrenz – Bücher waren erste Wahl.

Lange dachte ich nicht, dass „Schriftstellerin“ ein realer Weg sei. Studium, Arbeit, Alltag… Kleine Versuche, Artikel, Notizen, ohne große Resonanz. Mit Beginn der Pandemie änderte sich alles: Mein Reiseblog wurde plötzlich sinnlos. Also begann ich spontan auf Facebook einen Roman zu schreiben – ohne Plan, ohne Ende zu kennen. Rückblickend naiv, aber genau das öffnete mir die Tür.

Es folgten Literaturwettbewerbe, Begegnungen mit Autor:innen, das Gefühl eines Weges. Dann erschien das erste Kinderbuch – zunächst im Team, später nahmen Verlage meine eigenen Texte. Und schließlich kam auch der erste Roman für Erwachsene.


Oseredok Leipzig: Wie begann deine Kinderliteratur, und welche Bücher würdest du heute hervorheben?

Bücher O.Skulovatova

Olena Skulovatova: Mein erstes Kinderbuch entstand im Team. Eine Redakteurin eines Kindermagazins organisierte einen Kurzlehrgang, und daraus wuchs ein illustriertes Sammelwerk mit 2000 Exemplaren. Für ein Debüt sehr gelungen.

Später schrieb ich eigene Kinderbücher. Besonders wichtig ist Kinder. Unerschütterliche Geschichten(укр. Дітлахи. Незламні історії) (Verlag „Schkola“). Es zeigt reale Erfahrungen heutiger Kinder: manche flohen, andere blieben. Eine Geschichte erzählt von einem Jungen in Deutschland, der erst die Sprache verweigerte, doch durch Fußball Anschluss fand. Eltern habe ich geraten: bitte zuerst selbst lesen, um sensible Themen einzuschätzen.

Weitere Werke: „Die Müllsammlerinnen“ (укр. Сміттярики) mit 1500 Exemplaren für Bibliotheken, später kommerziell neu aufgelegt. Und ein Tagebuch-Projekt für Kinder. Manchmal kamen mehrere Bücher in einem Jahr – einmal waren es sechs – das Resultat jahrelanger Arbeit.

Oseredok Leipzig: Erzähl von deinen Texten für Erwachsene: vom Roman „Imago des Menschen“ und der Erzählung „Millenia“.

Olena Skulovatova: „Imago des Menschen“ ist mein erster Roman für Erwachsene. Ich gewann einen Wettbewerb des Schriftstellerverbands der Ukraine, die kleine Auflage war schnell vergriffen. Der Held: ein IT-Spezialist, der das Haus kaum verlässt und online ermittelt. Zentrales Thema: OSINT – Recherche offener Quellen. Damals kaum bekannt, heute durch den Krieg allgegenwärtig. Es gibt auch eine Liebesgeschichte, soziale Themen, Fragen der digitalen Sicherheit.

Die Erzählung „Millenia“ war mein erstes veröffentlichtes Prosawerk. Klein im Umfang, doch ich möchte es ausbauen: es behandelt historische Schichten, etwa Kytai-Horod bei Kamjanez-Podilskyj, die Podolischen Tovtry – Orte, die mich stark prägten.

Oseredok Leipzig: Ein paar biografische Eckdaten: Wo bist du geboren, wo hast du studiert und gearbeitet?

Olena Skulovatova: Ich komme aus Tschernihiw, studierte Psychologie in Nischyn, promovierte in Kyjiw. Ich bin Kandidatin der psychologischen Wissenschaften, Dozentin. Lehrte viele Jahre, zuletzt an der Landwirtschaftlichen Universität Bila Zerkwa. Mit Beginn der großangelegten Invasion gingen wir nach Deutschland.

Oseredok Leipzig: Wie vereinbarst du Mutterschaft, Beruf und Schreiben?

Olena Skulovatova: Früher betrieben wir aktiv Sport und Tourismus, nahmen an Meisterschaften teil. Ich erinnere mich: unsere Älteste war zwei Monate alt, und ich stillte sie direkt nach der Strecke. Später traten Reisen an die Stelle des Sports. Nach dem tragischen Tod meiner Schwiegereltern blieb ich ohne Unterstützung, ging in Elternzeit. Später kehrte ich zur Arbeit zurück, doch der Krieg zwang uns ins Ausland.

Mein Alltag: eine Stunde früher aufstehen und schreiben. 1–2 Stunden täglich, mehr geht nicht. Ich verzichte auf Spaziergänge und Ordnung (schwer für mich!). Ich folge dem Prinzip der 10 000 Stunden: Heute habe ich etwa 6000 Stunden im Schreiben – also braucht es Systematik. Ich plane, habe Deadlines, arbeite parallel an 2–3 Texten.

Meine Kinder sind Beta-Leser. Wir machen Vorleserunden, prüfen Dialoge. Die mittlere Tochter berät mich bei Minecraft. Meine Bücher wachsen mit meinen Kindern.

Olena Skulovatova und Oseredok Leipzig
Olena Skulovatova und Oseredok Leipzig

Oseredok Leipzig: Hilft dir deine psychologische Ausbildung beim Schreiben?

Olena Skulovatova Ja, aber indirekt. Ich vermeide Psychologisierung und Non-Fiction über Emotionen. Aber die Wissenschaft gab mir Struktur, Konsequenz, Prozessmanagement – sehr hilfreich.

 Oseredok Leipzig: Du kommst aus einer russischsprachigen Familie, schreibst aber heute auf Ukrainisch und erziehst deine Kinder so. Wie verlief dieser Weg?

Olena Skulovatova: Ich wurde in einer russischsprachigen Familie in Tschernihiw geboren, besuchte eine russischsprachige Schule und studierte zunächst ebenfalls auf Russisch. Der Wandel begann 2009, als ich bereits lehrte und in ein ukrainischsprachiges Umfeld hineinkam. Großen Einfluss hatte mein Mann aus einer ukrainischsprachigen Familie; interessant: Er kann Russisch kaum sprechen – es klingt künstlich, schneidet ins Ohr. In unserer Familie ist Ukrainisch die Norm.

Ich habe meine Vorlesungen aufgezeichnet, im Zug angehört und Fehler notiert, um sie zu korrigieren. Sprache ist Disziplin und Willensentscheidung, die sich in der richtigen „Blase“ leicht stützen lässt. Im Ausland merkt man besonders, wie Ukrainisch zum Marker der Zugehörigkeit wird und Gespräche öffnet – oft mit Menschen, die man nur ein einziges Mal trifft.

Oseredok Leipzig: Was geschieht aktuell in der ukrainischen Literatur – für Menschen, die es nicht ständig verfolgen?

O.Skulovatova
O.Skulovatova

Olena Skulovatova: Seit 2022 hat sich vieles verändert. Mit dem Verbot russischer Bücher und ihrem Rückzug vom Markt begannen Leser:innen und Verlage, ukrainische Autor:innen neu zu entdecken – Klassiker (Domontowytsch, die „Erschossene Renaissance“, Chwyljowyj) ebenso wie Zeitgenössische. Der falsche Stereotyp, ukrainische Literatur sei nur Leid, bröckelt.

Gleichzeitig erleben wir eine Krise der Kinderliteratur: niedrige Geburtenraten, Abwanderung von Kindern durch den Krieg und ein Missverhältnis von Produktion und Absatz. Auf dem letzten „Book Arsenal“ (Книжковий Арсенал) wurde offen darüber diskutiert. Die Kette ist simpel: Verkauft sich das Alte nicht, fehlt Geld fürs Neue. Im Erwachsenenbereich ist die Lage besser – Lesekreise, Instagram-Communities, eine lebendige Lesekultur.

Eine große Herausforderung ist die Künstliche Intelligenz: Ihre Texte werden besser; die Branche muss neu definieren, was menschliches Schreiben ausmacht. Schmerzhaft bleibt auch die Lizenzfrage: Auf Messen wie Leipzig oder Bologna spürt man, dass ausländische Verlage lieber an uns verkaufen, als ukrainische Rechte einzukaufen. Begründung: Die Kriegsrealität sei für Kinder in friedlichen Ländern weniger attraktiv. Dennoch entsteht gerade jetzt ein neuer Kanon – lebendig, vielfältig, zeitgenössisch.

Oseredok Leipzig: Was rätst du Leser:innen und Eltern junger Leser:innen?

Olena Skulovatova: Sucht eure eigenen Stimmen: Die heutige ukrainische Literatur ist breit an Themen und Stilen. Gebt Kindern wahrhaftige Texte, aber behutsam und mit Begleitung: gemeinsam lesen, sprechen, fragen. Und pflegt Sprachbewusstsein – es kommt nicht von allein; es ist eine tägliche Entscheidung.

Oseredok Leipzig: Olena, vielen Dank für Offenheit und Wärme. Deine Geschichte erzählt von Systematik, Mut und Achtsamkeitgegenüber den Leser:innen.

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