Deutsch- ukrainischer Kultur und Bildungsverein

Buchtipp: Szczepan Twardoch: Die Nulllinie

(PL) Szczepan Twardoch: Null. Wydawnictwo Marginesy, Warschau 2025, 276 Seiten
(DE) Szczepan Twardoch „Die Nulllinie“

Um über den Krieg in der Ukraine zu schreiben, muss man zuerst den Peloponnesischen Krieg gelesen haben“ – sagte Szczepan Twardoch am 20. Mai 2025 bei der Präsentation der deutschsprachigen Übersetzung seines Romans in Berlin.

Im Jahr 2025 erschien der Roman Die Nulllinie des bekannten polnischen Schriftstellers schlesischer Herkunft Szczepan Twardoch – ein Text, der von Ostap Slyvynsky bereits jetzt als bedeutender Beitrag zur europäischen Wahrnehmung des Kriegs in der Ukraine angesehen wird. Es handelt sich weder um einen Kriegsreport noch um ein politisches Manifest. Es ist ein literarischer Roman, der durch die persönliche Geschichte einer fiktiven, aber äußerst glaubwürdigen Figur über Kampferfahrung, familiäre Traumata, verschwommene Identität, sprachliche Vielfalt und die stille Kontinuität der Geschichte im Alltag spricht.


Szczepan Twardoch – ein Autor zwischen Realität und Fiktion

Szczepan Twardoch (*1979) ist Autor von mehr als einem Dutzend Romanen, vielfach ausgezeichnet in Polen und international. Bekannt als Prosaist, Dramatiker, Essayist und engagierter Bürger, betont er oft seine Zugehörigkeit zur schlesischen Kulturgemeinschaft und unterstützt die sprachliche Revitalisierung des Schlesischen. Vielleicht ist es gerade diese Erfahrung einer Zugehörigkeit zu einem „staatenlosen Volk“, die ihm ein tiefes Verständnis für ukrainische Realitäten ermöglicht – insbesondere für die soziolinguistischen, die für viele Europäer schwer nachvollziehbar sind. Seit 2022 unterstützt Twardoch aktiv die ukrainischen Streitkräfte – als Freiwilliger, Spendenorganisator und durch die persönliche Lieferung von Drohnen und Fahrzeugen an die Front.

Null ist das Ergebnis nicht nur humanitärer Solidarität, sondern auch tiefer persönlicher Involviertheit. Ein Roman, der „aus dem Inneren des Krieges“ geboren, aber mit der Distanz literarischen Denkens geschrieben wurde.


Handlung und Struktur

Der Protagonist ist ein junger Mann polnisch-ukrainischer Herkunft aus Polen, der sich nach Beginn des großangelegten russischen Überfalls freiwillig zur Unterstützung der Ukraine meldet und später den Streitkräften beitritt. Seine Geschichte ist keine epische Heldenerzählung, sondern eine des Alltags – eine Transformation: vom Gleichgültigen zum Zugehörigen, vom passiven Beobachter zum Kämpfer.

Bemerkenswert ist die Erzählform: Der Text ist in der zweiten Person Singular verfasst – eine direkte Ansprache an „dich, Konju“ (Kin ist der militärische Spitzname des Protagonisten). Dies erzeugt eine intensive psychisch-emotionale Nähe, ein hypnotisches Selbstgespräch, das der Leser „belauscht“ – als sei er Teil eines gespaltenen Bewusstseins. Gleichzeitig fragt man sich unweigerlich: Warum „du“? Ist dem Helden etwas zugestoßen?

Zwei Erzählstränge stechen hervor: Die erste Linie behandelt Fragen der Identität – Herkunft, Zugehörigkeit, Neubewertung historischer Wurzeln. Die zweite beschreibt den Alltag an der Frontlinie, der sogenannten „Nulllinie“. Twardoch schildert den rauen militärischen Jargon und vulgäre Sprache, die der emotionalen Entladung dienen. Der Kontrast zwischen dieser Derbheit und philosophisch-historischen Reflexionen erzeugt eine starke emotionale Wirkung.

Im Verlauf des Romans erleben wir die Wandlung des Kin. Anfangs gleichgültig gegenüber seiner Herkunft, beginnt er im Kontext des Krieges seine ukrainische Identität zu begreifen. An der Nulllinie ist ein tiefgründiger, vielschichtiger Roman über die Schrecken des Krieges – und über die Fragen nach Identität, Erinnerung und dem menschlichen Dasein unter extremen Bedingungen.


Identitätskreuzungen

Besonders hervorzuheben ist die tiefgreifende Auseinandersetzung der Hauptfiguren mit Fragen nationaler Identität, die eng mit den historischen Traumata der Ukraine, Polens und Deutschlands verknüpft ist. In intensiven Familiendialogen wird deutlich, wie stark die Vergangenheit die Gegenwart prägt. So stellt ein Sohn seinem Vater die provokante Frage, warum sie sich eigentlich nicht als Ukrainer begreifen, wenn doch der Großvater einst der UPA angehörte. Diese scheinbar einfache Frage entwickelt sich zu einem Auslöser für eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit einer verdrängten Familiengeschichte.

Ein weiterer Moment lässt die Ambivalenz familiärer Herkunft besonders plastisch werden: Der Vater gesteht, dass die Großmutter eigentlich keine Polin, sondern Deutsche aus Breslau war – allerdings, wie er betont, „nur von Geburt“. Diese beiläufige Einschränkung verdeutlicht die Komplexität von Identitätsnarrativen, die durch Kriege, Vertreibungen und verschobene Grenzen geprägt wurden.

Auch das schwierige Erbe der polnisch-ukrainischen Vergangenheit wird nicht ausgespart. Eine der Figuren schildert nüchtern und schmerzhaft, dass ihr Großvater die Ukrainer verachtete, weil sie seine Eltern und zwei Schwestern ermordet und in einem Stadel verbrannt hätten – eine deutliche Anspielung auf die bis heute nachwirkenden Traumata der Wolhynien-Tragödie.

Demgegenüber steht eine jüngere Generation, die sich zunehmend als Europäer begreift und den historischen Ballast lieber hinter sich lassen möchte. In einem Moment der Abgrenzung insistiert ein Vater gegenüber seinem Sohn darauf, einfach „ein normaler Pole“ zu sein. Für ihn gehören nationale Konflikte und Identitätsfragen der Vergangenheit an – Polen ist in der EU, ebenso wie Breslau, und für ihn zählt heute vor allem die europäische Zugehörigkeit.


Sprache als Schlachtfeld

Ein zentrales Thema des Romans ist der sprachliche Konflikt zwischen Russisch und Ukrainisch – Sprache wird zum Marker von Identität. Der Krieg verschiebt die Bedeutungen der Sprachen radikal. So fragt sich der Protagonist in einer Szene, ob er sich – wäre er in Uniform – überhaupt getraut hätte, lautstark russisch sprechende Personen zu ermahnen, Ukrainisch zu verwenden. Die selbstkritische Antwort darauf lautet: natürlich nicht.

Eine weitere Figur (Jagoda) reflektiert, dass sie von Kindheit an Russisch gesprochen habe, weil Ukrainisch in ihrer Kyjiwer Mittelschichtsfamilie als „Sprache der Hinterwäldler“ galt. Doch die Realität des Krieges zwingt zum Umdenken – Ukrainisch wird zur Sprache der Zugehörigkeit und des Widerstands.

Ein besonders interessantes Phänomen besteht darin, dass viele Kriegserfahrungen, die auf Ukrainisch gemacht wurden, sich für den Protagonisten kaum ins Polnische übertragen lassen. Militärische Funksprüche wie „Zentrale, melden!“ oder „Verstanden“ klingen auf Polnisch fremd und unpassend – ein Hinweis darauf, wie tief Sprache mit emotionaler Realität verknüpft ist.

Der Roman nutzt auch eine eschatologische Metapher: Der Protagonist sieht sich in einer Linie mit einem Skythen – einem Urkrieger, von dem er seine Energie geerbt habe. Diese fiktive Ahnenreihe verweist auf eine mythische Kontinuität des Freiheitskampfes. Seine Handlungen entspringen weniger rationaler Überlegung als einem inneren Drang, der an das antike thymos-Konzept erinnert – jenes leidenschaftliche Prinzip, das zum Handeln antreibt.


Der Roman als ehrliche Beobachtung

Twardoch schildert die Realität des ukrainischen Militärs mit bemerkenswerter Offenheit: Es gibt heldenhafte Freiwillige ebenso wie Gleichgültige und sogar gefährliche Kameraden. Besonders drastisch ist der Kontrast zwischen der Entbehrung an der Front und dem vergleichsweise komfortablen Leben in der Hauptstadt – etwa, wenn gepanzerte Fahrzeuge durch Kyjiw fahren, die an der Front bitter fehlen.

Immer wieder reflektiert der Roman existenzielle Fragen wie die Angst vor dem Tod und die Zerbrechlichkeit von Sinn: So beschreibt eine Figur, dass man selbst dann noch Angst empfinde, wenn man sich innerlich schon als tot betrachtet. Und dass das eigentliche Leiden beginne, wenn man wieder an ein Leben nach dem Krieg glaubt – denn dann wird der Krieg unerträglich.


Präsentation in Berlin: Krieg der Intelligenz

Bei der Vorstellung der deutschen Übersetzung Die Nulllinie am 20. Mai 2025 in Berlin (Verlag Rowohlt Berlin, übersetzt von Olaf Kühl) betonte Twardoch die Gefahr der russischen Geschichtsnarrative, die auf der Glorifizierung vergangener Siege basieren – von Paris 1815 über Berlin 1945 bis hin zu Prag 1968 und Georgien 2008. Diese Kontinuität kolonialer Gewalt werde heute als sakrale Mission missverstanden.

Twardoch beschreibt den Krieg als Mischung aus Erstem Weltkrieg und Science-Fiction: Menschen sitzen in Schützengräben mit nassen Füßen – doch gleichzeitig steuern sie tödliche Drohnen per Konsole. Der Moment, in dem ein Angriffsdrohne ihr Ziel trifft, während der betroffene Soldat noch steht und denkt, obwohl er im Grunde bereits tot ist, wirkt wie ein Sinnbild für die Entmenschlichung des modernen Krieges.

Für Twardoch ist dieser Krieg kein Kräftemessen militärischer Potenziale, sondern ein Wettbewerb der Intelligenzen.


Fazit

Mit Null / Die Nulllinie hat Szczepan Twardoch einen vielschichtigen Roman vorgelegt, der weit über eine klassische Kriegsdarstellung hinausgeht. Er verwebt persönliche Geschichten mit historischen Reflexionen, analysiert die sprachlichen, politischen und familiären Konfliktlinien im osteuropäischen Raum – und zwingt den Leser, sich mit den unbequemen Fragen von Erinnerung, Zugehörigkeit und Identität auseinanderzusetzen. In einer Zeit, in der der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist, wird Die Nulllinie zu einem unverzichtbaren literarischen Zeugnis.

Die Nulllinie von Szczepan Twardoch ist ein sehr empfehlenswertes und wichtiges Buch, das nicht nur den Krieg in der Ukraine auf literarisch eindrucksvolle Weise verarbeitet, sondern auch zentrale Fragen nach Identität, Geschichte und europäischer Verantwortung aufwirft. Es ist kein einfacher, aber ein notwendiger Roman – gerade für Leserinnen und Leser, die die Gegenwart Osteuropas besser verstehen wollen.

Liza Walther, Oseredok Leipzig e.V.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kategorien