Am 20. November 2024 fand in Leipzig ein weiteres Treffen des Buchclubs der ukrainischen Kultur- und Gemeinschaftsorganisation Oseredok Leipzig statt, das zahlreiche Liebhaber:innen der ukrainischen Literatur zusammenbrachte. Der Buchclub, der im Juli 2023 gegründet wurde, zählt über 50 feste Mitglieder und trifft sich monatlich. Ziel ist es, einander zu motivieren, längere Texte auf Ukrainisch zu lesen, sich beim Lesen geistig zu entspannen, einander in der Fremde zu unterstützen und den ukrainischen Wortschatz sowie sprachliche Ausdrucksweise zu erweitern.
Darüber hinaus unterstützt der Club gezielt ukrainische Verlage, indem er Bücher – sowohl in gedruckter als auch in elektronischer Form – für alle Mitglieder erwirbt. Gerade in Zeiten des Krieges und der gezielten Zerstörung der ukrainischen Kultur ist dies von großer Bedeutung, da die Verlage eine zentrale Rolle in der Förderung und Weiterentwicklung der ukrainischen Sprache spielen.
Diesmal stand der facettenreiche Roman „Zeitzuflucht“ des bulgarischen Autors Georgi Gospodinow im Mittelpunkt, übersetzt ins Ukrainische von Ostap Slyvynsky und herausgegeben von Chorni Vivtsi Adult. Über drei Stunden hinweg führten die Teilnehmer:innen eine lebhafte Diskussion zu den komplexen Themen des Buches wie Geschichte, Erinnerung und Identität. Niemand blieb dabei von den berührenden Inhalten des Romans unberührt.
Der Roman als universelles Zeugnis der Zeit
Im Zentrum des Romans steht die Frage nach der Vergangenheit und ihrem Einfluss auf den Menschen: „Wie viel Vergangenheit kann ein Mensch ertragen?“ (S. 65). Die Teilnehmer:innen waren sich einig, dass der Roman meisterhaft Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpft und dabei universelle Fragen zu Identität und historischem Erbe aufwirft. Obwohl die Ereignisse des Buches nicht direkt mit der Ukraine verbunden sind, spiegeln sie überraschend aktuell die gesellschaftlichen und politischen Krisen unserer Zeit wider.
Besonders intensiv wurde das Spannungsverhältnis zwischen „kollektivem Vergessen“ und „Überproduktion von Erinnerung“ (S. 213) diskutiert. Die Frage des Autors, ob die Vergangenheit bewahrt oder zugunsten der Zukunft vergessen werden sollte, regte zu tiefgehenden Überlegungen an.
Kindheit und Erinnerung: Zwischen Nostalgie und Realität
Ein weiterer zentraler Punkt des Romans ist die Bedeutung von Kindheitserinnerungen und deren Verbindung zu materiellen und sinnlichen Erfahrungen. Besonders der Abschnitt über „glänzende Dinge aus dem Katalog“ (S. 49) erregte Aufmerksamkeit. Diese symbolisierten die Sehnsucht nach einer besseren Welt in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Ergänzend dazu wurden Gerüche als Trigger für Erinnerungen besprochen: „Es ist immer praktischer und authentischer, einfach eine Scheibe Brot zu rösten oder etwas Asphalt zu schmelzen“ (S. 64).
Politik und Geschichte als erzählerisches Fundament
Der Roman greift bedeutende historische und politische Kontexte auf – von der Gerichtsverhandlung gegen Georgi Dimitroff in Leipzig (S. 76) bis zu allegorischen Anspielungen auf die Annexionen und „Referenden“ in der Krym und im Donbas (S. 210). Der Autor zeigt eindrucksvoll, wie sich die zyklische Natur der Geschichte auf die Gegenwart auswirkt. Interessanterweise fand das Treffen des Buchclubs nur 200 Meter entfernt von dem Gebäude statt, in dem einst der Prozess gegen den bulgarischen Aktivisten Georgi Dimitroff stattfand, der der Brandstiftung am Reichstag beschuldigt wurde. Dieses historische Ereignis wird im Roman mehrfach erwähnt. Ebenso trägt eine nahegelegene Straße seinen Namen – Dimitroffstraße.
Besonders hervorgehoben wurde das Thema Nationalismus und Totalitarismus: „Du hast längst verstanden, dass du dich zwischen Nationalismus und Sozialismus entscheiden musst“ (S. 196). Die Teilnehmer:innen betonten, dass der Roman zeigt, wie die Vergangenheit nicht nur auf uns lastet, sondern auch eine verführerische Anziehungskraft hat. Die biblische Geschichte von Lots Frau (S. 328), die den Blick zurück als gefährlich und lähmend beschreibt, wird hierbei kunstvoll eingeflochten.
Ethik, Erinnerung und Zeit: Persönliche Reflexionen Oseredok Leipzig
Existenzielle Themen des Romans führten zu intensiven Diskussionen. So regte etwa die Aussage „Keine Monster, keine Helden. Der Tod ist die Schwester des Monsters, und das wahre Monster ist das Alter“ (S. 71) Überlegungen zu Euthanasie und Menschenwürde an.
Eindrücklich war auch die Szene über die Rückkehr an die Orte der Kindheit: „Besuchen Sie niemals die Orte, die Sie als Kind verlassen haben, nach einer langen Abwesenheit. Dort gibt es nichts“ (S. 179). Dieser Abschnitt weckte bei den Teilnehmer:innen starke Emotionen und führte zu Überlegungen über eigene Erinnerungen und deren Einfluss auf die Gegenwart. Besonders schmerzlich waren Gedanken und Erinnerungen an besetzte Gebiete in der Ost und Süd Ukraine, in die einige Teilnehmer:innen seit über zehn Jahren nicht zurückkehren können.
Ein zeitloses Werk
Die Teilnehmer:innen kamen zu dem Schluss, dass dieser Roman ein wahrhaft zeitloses Werk ist, zu dem man immer wieder zurückkehren, es erneut lesen und überdenken möchte. Es behandelt tiefgründig Fragen zu Geschichte, Identität und menschlicher Natur und hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Obwohl das Buch von einem bulgarischen Autor stammt, fühlte es sich für viele so an, als wäre es über die jüngste Geschichte der Ukraine geschrieben worden – eine Mischung aus Faszination und Beklemmung.
Natürlich blieb auch Kritik nicht aus: Die zahlreichen Verweise auf russische Literatur und Figuren – darunter Brodsky, Dostojewski, Lermontow und sogar Walentina Tereschkowa – zeugten vom starken Einfluss der russischen Kultur auf den Autor, was er selbst offen zugibt. Weitere Kritik betraf den Schreibstil, der als etwas altmodisch empfunden wurde und an die Literatur des 19. Jahrhunderts erinnerte. Dennoch motivierten die Genialität der Thematik und die Tiefe der Überlegungen die Leserinnen, weiterzulesen.
Das Treffen im Leipziger Buchclub der ukrainischen Kultur- und Bildungsverein Oseredok Leipzig bestätigte erneut, dass Literatur nicht nur ein Fenster zur Welt ist, sondern auch ein Spiegel, der uns zwingt, uns selbst aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Solche Diskussionen bereichern nicht nur intellektuell, sondern schaffen auch Raum für tiefe Selbstreflexion, die lange nachhallt.