Deutsch- ukrainischer Kultur und Bildungsverein

Ukrainische klassische Musik Als Würde: Kateryna Shyk über Identität und Widerstand

Am 21. Juni 2025 um 20:00 Uhr findet im Polnischen Institut Leipzig ein Gespräch-Konzert der Klavierwerke des ukrainischen Komponisten Borys Ljatoschynsky unter dem Titel „CODE“ statt. Initiiert wurde das Projekt von der Pianistin, Performerin und Forscherin Kateryna-Sophia Shyk. Sie wird nicht nur die Musik aufführen, sondern auch in das Leben und den historischen Kontext des Komponisten einführen.

Dieses Interview ist ein tiefgehendes Gespräch über die Einzigartigkeit der ukrainischen klassischen Musik, ihre Herausforderungen und ihren Platz im globalen Kontext. Kateryna-Sofiia teilt ihre Erfahrungen mit dem ukrainischen Repertoire auf europäischen Bühnen, spricht über die Rolle der Musik in Kriegszeiten und über die Verantwortung der heutigen Künstlergeneration. Ihre Aussagen handeln nicht nur von Musik – sie sprechen von Identität, Würde und kulturellem Gedächtnis.

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Oseredok Leipzig: Worin besteht die Einzigartigkeit der ukrainischen klassischen Musik im Vergleich zu anderen europäischen Traditionen – in der Intonation, im Klang, in der Idee?
Kateryna-Sofiia Shyk: Ukrainische klassische Musik bedeutet innere Freiheit. Sie ist die Stimme eines Volkes, das seit Jahrhunderten für sein Recht kämpft, gehört zu werden. Ihre Besonderheit liegt genau in dieser inneren Freiheit – selbst dann, wenn sie äußerlich unterdrückt wurde. Komponisten von Mykola Lysenko bis Valentyn Sylvestrov und heutige Autoren schaffen Musik, die tief national verwurzelt, aber gleichzeitig universell verständlich ist. Die Intonation beruht oft auf den modal gefärbten Volksliedern der Ukraine. Inhaltlich ist es Musik von Hoffnung und Verlust. Sie erzählt von kollektiver Erinnerung, Schmerz, Freude und Tragödie. Im Gegensatz zu vielen westlichen Traditionen, in denen klassische Musik zunächst als Unterhaltung für Aristokratie oder Intelligenz entstand, ist ukrainische Musik ehrlich und tiefgründig. Sie ist nicht für den bloßen Zeitvertreib gedacht – sie ist für Menschen, die etwas fühlen wollen. Und gerade darin liegt ihre Stärke.

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Oseredok Leipzig: Wie präsent ist ukrainische klassische Musik heute – in der Ukraine und international? Wird sie ausreichend gespielt und gewürdigt?
Kateryna-Sofiia Shyk: Aktuell erleben wir eine beispiellose Welle der Neugier auf ukrainische Musik. Trotzdem wird sie noch immer viel zu selten aufgeführt oder erforscht – insbesondere Werke vor dem 20. Jahrhundert. Erst seit etwa 10 bis 15 Jahren wird sie aktiver studiert und gespielt. Der russische Großangriff hat dieses Bedürfnis noch einmal deutlich verschärft. Es ist ein ambivalenter Zustand: Einerseits wächst die Offenheit gegenüber ukrainischer Kunst. Andererseits stoße ich oft auf die anhaltende Überlegenheitserzählung der „großen russischen Kultur“, die als selbstverständlich universell gilt. Veranstalter fragen manchmal, warum ich nicht Rachmaninow oder Prokofjew spiele. Aber diese Komponisten stehen für eine imperiale Kultur, die jahrhundertelang andere unterdrückt hat. Unsere Aufgabe als Musikerinnen, Kulturschaffende und Managerinnen ist es, ukrainische Musik nicht nur aufzuführen, sondern sie im passenden Kontext zu zeigen – mit ihrer Geschichte, Bedeutung und ihrem weltweiten Wert.

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Oseredok Leipzig: Kann ukrainische Musik eine Sprache sein, die heutige Hörer*innen über schwierige historische, politische oder persönliche Themen anspricht?
Kateryna-Sofiia Shyk: Sie ist bereits diese Sprache. Das war sie schon immer – aber jetzt beginnen wir, wirklich hinzuhören. Der Krieg stellt nicht nur unsere physische, sondern auch unsere kulturelle Existenz infrage. Musik wurde zum Sprachrohr der Wahrheit – über den Krieg, den Widerstand. Viele Werke des 20. Jahrhunderts, die in Zeiten der Repression entstanden, wirken heute aktueller denn je. Manchmal fast tragikomisch: Werke aus dem Zweiten Weltkrieg klingen heute wie ein Soundtrack zum Überlebenskampf. Auch zeitgenössische Komponisten dokumentieren durch ihre Musik den Krieg, das Erinnern, die Unbeugsamkeit. Diese Musik spricht nicht nur die Ukraine an – sie richtet sich an alle, denen Freiheit wichtig ist.

Doch oft fehlt in Europa das Verständnis für den Ernst der Lage. Manchmal scheint es, als ob die westliche Gesellschaft zu sehr an ihre Toleranz glaubt. Wenn etwa auf einem Konzert ukrainische Werke direkt neben Prokofjew stehen, frage ich mich: „Versteht ihr den Kontext? Seid ihr bereit, unsere Sprache – die Sprache der Musik – zu hören?“ Jahrzehntelange Unterdrückung ukrainischer Musik war kein Zufall, sondern gezielte imperiale Politik. Jetzt haben wir die historische Chance, das zu ändern.

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Während meines Studiums waren die meisten Lehrbücher und Materialien auf Russisch. Uns wurde kaum Wissen über ukrainische Komponisten vermittelt. Ihre Biografien waren oft verzerrt dargestellt. Wir müssen diese Quellen übersetzen, mit Archiven abgleichen. Werke ukrainischer Komponisten müssen in internationale Festivalprogramme integriert werden. Wichtig ist, sie nicht nur “der Form halber” aufzuführen, sondern auf ihrem gleichwertigen Platz neben europäischen Meisterwerken zu bestehen. Sie haben das Recht, dort zu sein. Und gleichzeitig müssen wir erklären, warum wir die russische Kultur nicht länger tolerieren können. Und der Welt die Größe ukrainischer Kunst zeigen.

Oseredok Leipzig: Fühlen Sie sich auf der Bühne als Repräsentantin ukrainischer Kultur – in Europa wie in der Ukraine?
Kateryna-Sofiia Shyk: In der Ukraine habe ich bisher noch nicht mit ukrainischem Repertoire konzertiert, aber das ist für 2026 geplant. Auf der europäischen Bühne empfinde ich jedes Konzert als Verantwortung. Früher war das für mich noch nicht so klar. Aber heute geht es nicht mehr nur darum zu sagen: „Hier ist ukrainische Musik – hört sie euch an.“ Es geht um Würde, um kulturelles Überleben. Viel zu lange galt ukrainische Kunst als etwas Temporäres, Beiläufiges. Aber ukrainische Musik ist keine Exotik, kein Beiwerk für Charity-Veranstaltungen. Sie ist ein legitimer Teil der europäischen Musikkultur. Jedes meiner Konzerte ist eine Botschaft: Wir existieren, unsere Kultur lebt – sie gehört zu den Besten Europas. Das weiterzugeben ist nicht nur meine Verantwortung, sondern auch meine Ehre.

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Oseredok Leipzig: Was bedeutet es für Sie, Ljatoschynsky zu spielen? Gibt es ein Werk, das Sie besonders bewegt?
Kateryna-Sofiia Shyk: Ljatoschynsky zu spielen, ist kein bloßes Musizieren. Es ist ein Ausdruck dessen, was sich nicht in Worte fassen lässt. Seine Werke haben zwei Ebenen: eine innere, persönliche – ein Monolog des Zweifelns, Hoffens, Suchens. Und eine äußere – sie sprechen für ein ganzes Volk, das um seine Identität ringt. Besonders nahe ist mir die dritte Präludie aus der „Schewtschenko-Suite“, die auf folgendem Vers basiert:
Und auf der neu gebor’nen Erde
gibt’s keinen Feind mehr, keinen Streit,
nur Mutter wird dort sein und Sohn –
und Menschen leben weit und breit…“ (T. Schewtschenko)

Diese Musik ist für mich wie ein Gebet – obwohl ich nicht religiös bin. Ein Gebet für die Ukraine. Für ihr Gedächtnis, ihre Zukunft. Die Präludie entstand im Zweiten Weltkrieg, in der Zeit von Ljatoschynskys „freiwilliger“ Evakuierung aus Kyjiw nach Saratow. Man spürt darin Heimweh, Verlust – und zugleich eine gewaltige innere Kraft. Ich habe sie im französischen Konsulat in Berlin gespielt. Nach dem letzten Ton – absolute Stille. Erst nach einigen Momenten: Applaus. Diese Musik trifft. Direkt ins Herz. Sie muss heute gehört werden.

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Oseredok Leipzig: Ist Ljatoschynskys Musik heute besonders aktuell in Hinblick auf die neue Auseinandersetzung um ukrainische Identität? Wie reagiert das internationale Publikum?
Kateryna-Sofiia Shyk: Absolut. Seine Musik ist Musik des Widerstands, der Würde. Sie entstand unter Zensur und Unterdrückung. Heute werden ukrainische Identität und Kultur nicht nur mit Raketen, sondern auch durch kulturellen Terror und Propaganda angegriffen. In meinen Konzerten hören viele Menschen Ljatoschynsky zum ersten Mal. Und sie sind überwältigt. Sie erkennen in seiner Musik europäische Tradition – aber auch etwas Einzigartiges. Leider wollen viele das Narrativ der „großen russischen Kultur“ nicht loslassen. Doch hier wirkt Ljatoschynskys Musik als Argument: Sie ist so kraftvoll, dass man sie nicht ignorieren kann.


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Oseredok Leipzig: Sie gehören zu einer Generation, die Ljatoschynsky neu entdeckt. Welche Verantwortung oder welches Privileg bedeutet das für Sie?
Kateryna-Sofiia Shyk: Ich bin nicht die Erste – auch die Generation vor mir, etwa Tetiana Homon, Iryna Tykova, die die Liatoshynsky Foundation betreuen, leisten großartige Forschungsarbeit. Aber für mich ist es Verantwortung und Privileg. Verantwortung, weil wir diese Musik nie wieder verschwinden lassen dürfen. Wir müssen sie so präsentieren, dass sie unüberhörbar wird. Und ein Privileg – denn wir dürfen Ljatoschynsky in den weltweiten Konzertbetrieb zurückholen. Nicht aus ideologischer Notwendigkeit, sondern aus echtem kulturellem Interesse. Der Prozess ist schwierig – viele Archive fehlen, manches ist noch nicht transkribiert. Als ich meine „CODE“-Sammlung in Berlin vorbereitete, wurde mir klar, wie bedeutend das ist. Es ist kein Konzert – es ist kulturelle Rückgewinnung.

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Oseredok Leipzig: Welche Tipps haben Sie für junge Musiker*innen, die sich für ukrainisches Repertoire interessieren?
Kateryna-Sofiia Shyk: Beginnt mit Musik, die euch persönlich anspricht. Ukrainische klassische Musik ist vielschichtig – da findet jede*r etwas. Für Studierende in Europa empfehle ich vor allem:

  • Präludien aus der „Schewtschenko-Suite“ und die „Zwei Präludien nach ukrainischen Volksliedern“ von Ljatoschynsky
  • Kosenkos Etüden – europäisch geschult, aber mit einzigartiger Färbung
  • Werke von Stanislaw Ljudkewytsch, Wassyl Barwinskyj, Soltan Almaschi
    Und natürlich: zeitgenössische Musik aus der Ukraine. Sie zeigt, wie das Land heute fühlt – emotional, sozial, kulturell. Unsere Musik ist keine hübsche Kulisse. Sie ist lebendiges Zeugnis. Ich rufe auch Wettbewerbs- und Festivalorganisator*innen auf: Habt den Mut, ukrainische Musik in eure Programme aufzunehmen – nicht als „Exotikum“, sondern gleichberechtigt.

Oseredok Leipzig: Ljatoschynsky wird oft als „Stimme der Ukraine“ bezeichnet. Wie setzen Sie diesen Gedanken in Ihrer Arbeit fort?
Kateryna-Sofiia Shyk: Ich unterrichte derzeit nicht, obwohl ich die Ausbildung dazu habe. Mein Fokus liegt auf dem performativen Schaffen. Für mich ist Ljatoschynsky wirklich die Stimme des ukrainischen Volkes. Und unsere Aufgabe ist es, diese Stimme weiterzutragen. Ich stimme Konzerten nur zu, wenn ukrainische Werke im Programm sind – das ist mein Beitrag zum kulturellen Dialog. Ich erkläre dem Publikum immer den Entstehungskontext dieser Musik: kein Luxus, sondern Exil, Überleben. Deshalb gibt es in meinem Projekt „CODE“ immer eine Einführung – es ist Teil der Botschaft. Ich plane weitere Projekte in Europa – mit Ljatoschynskys Musik, mit derselben Wahrheit, die er einst in Töne fasste.

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K-S.Shyk
K-S.Shyk

Kateryna-Sofiia Shyk wurde in Kropyvnytskyi (Ukraine) geboren – der Heimatstadt von Komponist Yuliy Meitus und Pädagoge Heinrich Neuhaus. Sie absolvierte ihr Masterstudium an der Musikakademie in Odessa. Heute lebt sie in Frankfurt am Main und setzt sich für die Verbreitung des ukrainischen pianistischen Erbes ein. Ihre Liebe zur Musik begann mit den Volksliedern ihrer Großmutter. Schon früh wandte sie sich dem ukrainischen Repertoire zu. Nach intensiver Auseinandersetzung mit europäischer Musik kehrte sie gegen Ende ihres Studiums wieder zu ukrainischen Werken zurück.

In Deutschland konzertierte sie u. a. in Berlin, Bonn, Frankfurt und Albstadt. In ihren Programmen finden sich stets Werke von Borys Ljatoschynsky, Myroslaw Skoryk u. a. Ihr Ziel: die Lücke zwischen europäischem Interesse und tatsächlicher Kenntnis ukrainischer Musik zu schließen – mit Leidenschaft und Hingabe.

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